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Autor Thema: Norddeutsche Herbstimpressionen
trabi

Beiträge: 2.162
Registriert am: 26.12.1999


Kalt schneidet sich die feuchte Herbstluft in die Haut. Man fröstelt unweigerlich, schnuppert, Kohlengase, Schornsteine die den Geruch der Kindheit von warmen Kachelöfen und langen Spaziergängen im Winter in die Luft freisetzen, nur vereinzelt. Ein paar Schritte, Türen klappen und das heulen des Anlassers zerreißt die, nein, nicht die Stille sondern die monotone Geräuschkulisse einer Stadt. Man selbst bestimmt den Ton. Die Umgebung ist nur Schauplatz, Hintergrundkulisse.

Nur ein paar Minuten später liegt die Stadt hinter mir. Unter mir liegt Straßenpflaster, dieses kleine, graue, das immer etwas nach Bahnhofzufahrt aussieht und eigentlich nicht so recht hier hinpassen will. Es erzeugt das Gefühl altbekanntes zu sehen, gibt etwas ruhiges und familiäres ab. Ich denke darüber nach und komme zu keinem Schluß warum. 4. Gang. Mit 70 Kilometern Pro Stunde geht es durch diese gepflasterte Allee, Gras wächst durch die Fugen, Laub weht im Sog hinter dem Auto her, auf dem Schild am Rand steht B96. was macht das B dort? Nur ein paar Meter weiter links steht noch ein Schild, man sieht es durch das Gestrüpp nicht aber man weiß es, dort stehen die gleichen Buchstaben und Zahlen, mit dem Zusatz a. Die B96a. Auf ihr pulsiert die Wirtschaft, im Sekundentakt donnern schwere Lastzüge vorbei, werden von schnellen Familienkombis und tiefergelegten Sportwagen überholt die sich gegenseitig blenden wenn sie sich dabei mal wieder zu nahe gekommen sind. Längst ist diese B96a zur eigentlichen „96“ geworden. Niemand nimmt von der alten noch wirklich Notiz, sie dient als Zugang zu Dörfern, den Traktoren als Feldweg, und mir zum betrachten der Alleebäume. Schön sind sie. Sie ist wieder was sie vor Jahren schon einmal wahr. Die F96, jene Straße die mir erstmals bewußt im Heimatkunde Unterricht als längste vorgestellt wurde, als Straße der Träume, das ganze Land erschließend, von Grenze zu Grenze und darüber hinaus. Zumindest im Süden. Unvorstellbar groß für einen kleinen Jungen der im Besten Fall die unterste Trittstufe eines Fernlasters mit der Nasenspitze berühren konnte.

Vor der Frontscheibe bietet sich ein grandioses Bild, angsteinflößend, vertraut, glücklich und traurig machend liegt dort eine endlos erscheinende Weite. Tiefgraue Wolken hängen über schmutzig orangeroten Bäumen die sich ängstlich in den Boden krallen, vereinzelte Gehöfte tun es ihnen nach, in diesem Meer aus Äckern, Wiesen und Weiden. Wie kleine Inseln halten sich Baumgruppen, und am Horizont lässt sich schwach erkennen das dort Wald beginnt. Das ist keine Kulisse mehr, hier ist man nicht Hauptdarsteller sondern nur Statist das alles ist auch da wenn man hier nicht fährt. Der Klang des Motors, der Anblick des Autos, alles wird die Natur sehr bald vergessen haben. Vereinzelte Dörfer. Niemand auf den Straßen. Links und rechts wechseln sich Häuser, Pferdekoppeln, eingegrenzt mal mit kleinbürgerlichen Hecken, dann wieder mit grob geschlagenen Holzzäunen ab, dazwischen immer wieder in alter Manier bunt, rot grün wechselnd oder mit Mustern versehene Drahtgitterzäune. Verblichen stehen sie wie Sendboten aus einer vergessenen Zeit da und wirken in dieser Landschaft wie Fremdkörper, bunte Tupfen die hier so recht nicht hinpassen obwohl sie doch dazugehören. Fröhlich stimmt ihr Farbenspiel im Rückspiegel, das lachen von Kindern das in Gedanken durch den Raum hallt. Der Ort bleibt zurück. Wieder geht es in die Weite, man fällt regelrecht hinein, die Augen suchen Halt und finden ihn auf dem Asphalt. Wirre Gedanken umkreisen das Auto, versuchen hineinzudringen und zum Fahrer zu gelangen, man ist zu schnell, vielleicht absichtlich, man nimmt nur Bruchstücke wahr die schnellen, fröhlichen die es schaffen das dahineilende Fahrzeug einzuholen.. das schlechte, schwere muß draußen bleiben, zu schnell ist man wieder verschwunden.

Rotes Blinklicht. Halt. Motor aus. Mit einem metallischen Rumpeln setzt der Schlagbaum auf. Es ist still. Der Wald ist erreicht und man steht nun mitten in ihm, allein vor einer geschlossenen Schranke und starrt das rostige Andreaskreuz an. Aus dem leichten Bodennebel zeichnet sich eine kleine Gestalt ab, sie steht vor dem Schlagbaum, versucht die Strecke einzusehen, in froher Erwartung des herannahenden Zuges, gleich kommt er, mehrere tausend Tonnen Stahl, schnell, sehr schnell, unterwegs zu fernen Zielen mit wichtiger Fracht imposant gebieterisch allem anderen gegenüber. Halt! mahnt das Blinklicht. Schrilles Kreischen stört, ein dreckiger DB Regio Pendel hält am kleinen Bahnsteig, niemand steigt aus, niemand ein. Die kleine Gestalt blickt sich um, den Fahrer an. Sie ist enttäuscht, sucht in den Augen von sich selbst Trost. Verschwindet. Lange ist der kleine junge verschwunden, lange sind die Zeiten der stolzen Bahn vorbei, der Pfiff des Regionalzuges geht ins Leere, „Vorsicht bei der Abfahrt“ soll er bedeuten. Niemand braucht vorsichtig sein. Es ist ja keiner da.

Weiter geht es, dritter Gang, vierter, 70, 80, 90, 95km/h, bis der Drehzahlmesser knapp unter 4000 stehenbleibt. Die Straße läßt das zu. Nagelneu ist sie, ersetzte alten Asphalt, den grobkörnigen, rötlichen. Er hatte keine Löcher, keine Risse war glatt und erfüllte seinen Zweck. Er mußte neuem Platz machen, einer Verbesserung. Laut Verkehrswegeplan ein dringend notwendiger Ausbau der Kreisstraße 19. Gelder wurden investiert damit das Land besser werde. Die neue Straße ist leer, genau so leer wie die alte, die alte hatte rötlichen Asphalt.

Bremsen, Ortschaft. „Horst“ steht auf dem Schild das den Durchreisenden, Heimkehrenden begrüßt. Horst. Das klingt wie Onkel, Opa, vertraut und nach langen Abenden mit Geschichten am Ofen. Ich halte, muß Vorfahrt gewähren, es ist ein Pferdegespann. Der wagen scheint älter zu sein als die beiden Insassen und die Pferde zusammen. Ich grüße und sie grüßen zurück ohne mich anzusehen. Trotzdem ist es ernst gemeint, es ist der Triumph des alten über das neue, kurzzeitig, und nur weil die Verkehrsordnung es so vorschreibt. Das Gefühl ist bekannt, es stellt sich ein wenn man selbst die Hauptstraße befährt. Die Szene atmet Schwermut. Durch alle Ritzen kriecht die Vergangenheit ins Auto, die Geschichten der alten Felssteine, die vor Jahrhunderten zur Kirche aufgetürmt, neben der Kreuzung stehen, klein, bescheiden und trotzdem von überwältigender Schönheit. Sie steht hier schon lange, hat Menschen kommen und gehen sehen, die Angst in ihren Gesichtern während schrecklicher Kriege, die Müdigkeit der heimkehrenden Soldaten, der wenigen, die Hoffnung in den Aufbaujahren, die Niedergeschlagenheit und Resignation als nichts mehr ging, sich neue Ideen in alte Machtspiele verwandelten und die unerklärliche Angespanntheit als Nachrichten aus fernen Städten von Veränderung kündeten. Städten mit so fremd klingenden Namen wie Leipzig, Dresden, Berlin. Hier in Horst war das alles weit weg, trotzdem brannten auch in dieser Kirche Lichter und die Menschen die hier lebten saßen bei der Pfarrersfamilie vor dem Fernseher und glaubten das alles nicht wirklich. Wieder sahen die Mauern des alten Gewölbes Hoffnung, Freude, ja ungebändigte Freude als es Gewißheit wurde und sie spürten die Angst, die schon damals mitschwang, was wohl werden wird. Ich biege ab, der Blick einer alten Frau trifft sich mit meinem und, nur für einen Moment, glaube ich sie hat das alles erzählt, oder wahr sie gar nicht dort? War es ein Trugbild? Die Wolken werden dunkler, ein Blick zum Kirchturm, durch dahinziehende Wolkenfetzen, verrät das die Sonne bald untergehen wird. Ohne Uhr würde man heute nicht sagen können ob es Vor- oder Nachmittag ist.
Vorbei geht es an leeren Hallen, gähnenden Fensterhöhlen die von der Zeit nach der großen Veränderung zeugen.. der Zeit als die Maschinen in Horst verstummten, als einst fleißige Hände was Werkzeug niederlegten und die Traktoren verkauft, verschenkt wurden. Wie zum Hohn steht zwischen all dem ein glänzender Ackerschlepper. Nagelneu. Fortschritt ist, wenn ein Dorf sein ganzes Leben gegen einen modernen Schlepper eintauscht. Ich verwerfe diesen Gedanken, kann ihn aber nicht ganz verdrängen. Über Feldwege geht es zurück Richtung Stadt, ich halte an einer kleinen Brücke, steige aus, drehe eine Zigarett und gehe ein paar Schritte. Nichts deutet darauf hin das dieses Land jemandem gehört. Es dürfte egal sein wer wo regiert. Hier in Pommern war Berlin schon immer weit weg, so stört auch nicht das an dem, sich nun an das alte Brückengeländer schmiegende Auto die Buchstaben DDR stehen, während das Kennzeichen HGW... lautet und von anderen politischen Verhältnissen kündet. Ja, für dieses Land ist es egal. Für die Menschen nicht. Weiter.
Schon von weitem lassen sich jene Gebiete am Rande der Stadt ausmachen in denen Tausende von Menschen gleichzeitig ihre Bedürfnisse erfüllen können. Wo es Glück, Freude und „Erfolgreich Sein“ für nur ein paar Geldscheine gibt. Wenn diese Menschen wieder zu Hause sind werden sie sich kurz wundern, daß sich nichts in ihrem Leben geändert hat.. sie werden wiederkommen. Denn sie haben gesehen, daß andere Menschen damit glücklich sind, das man diese Dinge braucht. Sie haben lange nicht mehr gedacht, denn sie müssen arbeiten, für den neuen Flachbildschirm. Ich frage mich wo all die Menschen sind die nicht arbeiten können. Fast 5 Millionen soll es davon geben, was machen diese Menschen wenn all die anderen ihr Seelenheil im Einkauf suchen? Bis zum heimatlichen Parkplatz kann ich diese Frage nicht klären. Vertagung. Fünfunddreißig Kilometer sind gefahren. Eine kurze Strecke die von einem Land erzählt das viel erlebt, sich nichts hat nehmen und doch Generationen das Leben geschenkt hat. Man muß nur zuhören. Wenn man will.

[Bearbeitet von trabi (12-11-2005 - 19:36)]

Beppo

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*gänsehaut*
601 Uncrowned

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Sehr schön! Aber die Kohlengase dürfen auch durchsetzt sein mit dem Duft von Mohrrübeneintopf, der aus einer Kindergartenküche weht.
Dachzelt_Ulli

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Bei mir hat die Erzählung alte Bilder wachgerufen, in meiner Kindheit war ich oft auf der 96 unterwegs. Schön geschrieben und sehr einfühlsam.
umtc

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Ich bin echt sprachlos. Einfach super.

[Bearbeitet von umtc (13-11-2005 - 12:32)]

CASI

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Absolute Spitzenklasse.
Ich habe soeben meine erste Reise in die wirkliche DDR (Transit West Berlin zählt nicht) noch einmal gedanklich wiedererlebt. Das war im Januar 1990 und es war nicht die F96, sondern die F188 von Oebisfelde bis Berlin. Einfach toll.
Magnumdriver

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Dem gibt es nichts hinzu zu fügen.
Oma Helga Pilot

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Also ganz ehrlich: Das hat wirklich Spass gemacht zu lesen. Ohne viel Mühe kann man glauben, bei dieser Fahrt dabei zu sein.
Kuno

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War echt toll zu lesen, diese Herbstimpressionen.....
Gratulation zu dem sehr einfühlsam geschriebenen Beitrag! Hat mir sehr gut gefallen!

Das schreit förmlich nach einem "Nachschlag"...!
Würde mich sehr freuen, noch mehr solche Impressionen lesen zu können.

Deluxe

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Großartig.
Schumi

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Schön!
das moss

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nicht schlecht..... *Respekt*
Solche Impressionen sind selten geworden.....


(was mich Gewißheit gibt, dass dein Studium (wenn auch in einer anderen Fachrichtung) nicht umsonst war.... )

Beppo

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Wobei wir beim Thema wären!
@trabi - jetzt wird aber wieder an der Diplomarbeit geschrieben!

Ich weiss, jetzt hab ich die ganze schöne Stimmung versaut

trabi

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na hoppla.. ihr macht mich verlegen.. ich weiß garnicht wie ich reagieren soll..

@beppo: nagut, wenns denn sein muss

CASI

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@trabi:
Ganz einfach: Eine Fortsetzung bringen.
Eifler

Beiträge: 15
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Echt toll geschrieden, sehr einfühlsam und autentich.
Mann hatt das Gefühl selber bei der Fahrt dabei gewesesn zu sein.
Ich sag ur weiter so. Hoffe ma noch öffter was von dir zu lesen
standard

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Gänsehaut beschreibt den Eindruck nur unzureichend - weil´s >unter< die Haut geht... An Dir ist ein Schriftsteller verloren gegangen, trabi!
Wirklich eine schöne Reise- und Zustandsbeschreibung! Ein paar Leute nehmen sich eben doch noch Zeit dazu, - zu denken...

[Bearbeitet von standard (14-11-2005 - 10:45)]

umtc

Beiträge: 381
Registriert am: 03.06.2005


@CASI

Die Idee mit der Fortsetzung finde ich gut.

ZUGABE!

zwigge79

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Registriert am: 02.02.2004


Mir gehts nicht anders, ich hätt`s nur nicht in Worte fassen können.
@standard Wieso verloren gegangen, er kann doch noch umsatteln.
standard

Beiträge: 19.357
Registriert am: 26.01.2002


Stimmt auch wieder...-Wie sieht´s also aus, trabi?!
Folgende Passage finde ich übrigens besonders gelungen - trifft auf (mindestens...) den halben Osten zu:

"Vorbei geht es an leeren Hallen, gähnenden Fensterhöhlen die von der Zeit nach der großen Veränderung zeugen.. der Zeit als die Maschinen in Horst verstummten, als einst fleißige Hände was Werkzeug niederlegten und die Traktoren verkauft, verschenkt wurden. Wie zum Hohn steht zwischen all dem ein glänzender Ackerschlepper. Nagelneu. Fortschritt ist, wenn ein Dorf sein ganzes Leben gegen einen modernen Schlepper eintauscht..."

trabi

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Registriert am: 26.12.1999


nagut, vorschlag: wenn mal wieder soetwas meinen gehirnwindungen entfleucht werde ich es euch nicht unbedingt vorenthalten.. ok?
standard

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Okay - wir warten gespannt!
 

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